Leseprobe

Leseprobe aus dem Roman „Pacific Crest Trail Killer“. Copyright 2021 by Christian Piskulla. Der komplette Roman verfügt über 648 Seiten. Die Leseprobe beinhaltet 28 Seiten . Alternativ können Sie die Leseprobe auch als PDF herunterladen.

PCT spricht sich pi si ti

Pacific Crest Trail Killer

14. Mai, Südkalifornien. 25 Kilometer vom PCT entfernt

Als er vom Badezimmer zurück in das Schlafzimmer ging, blieb er einen Moment in der Tür stehen. Irgendetwas stimmte nicht, verunsicherte ihn. War das alles nur ein Traum?

Das Bild, das sich seinen Augen bot, glich einem verblassten Schwarz-Weiß-Foto aus den späten Siebzigerjahren. Nichts in dem Zimmer hatte eine Farbe. Grau, in verschiedenen Abstufungen, war der vorherrschende Farbton.

Da war der alte, an vielen Stellen durchgelaufene, völlig verdreckte Teppich. Brandlöcher, Flecken, vor dem Bett abgedeckt durch einen nicht minder verschlissenen Vorleger. Als er am Abend zuvor einen Satz Liegestütze ausführte, kam er mit seinem Gesicht dem Boden sehr nah. Er roch Schweiß, Rauch, etwas unangenehm Säuerliches. Er sah Haare, Krümel, dazu alten, festgetretenen Schmutz. Im Eingangsbereich, gleich hinter der Tür, war der Teppich stellenweise bis auf den Beton durchgelaufen.

Vor langer Zeit hatte man die Wände des Motelzimmers weiß gestrichen. Über all die Jahre war die Farbe vergraut. In den Zimmerecken hatten sich Staub und Zigarettenrauch abgesetzt. Spinnweben hingen wie dünne, graue Tentakel von der Decke. An der Wand über dem Bett störte ein heller, rechteckiger Fleck. Einst hing hier wohl ein Bild, der einzige Schmuck in dem Raum. Wurde es gestohlen? Oder hatte es ein Gast im Suff heruntergerissen und zerstört?

Die dunkelgrau melierten Vorhänge vor dem Fenster hatte er zugezogen, schon am Tag seiner Anreise. Jetzt, um fünf Uhr morgens, drang nur ein schwacher Lichtschein hindurch. Der leere, trostlose Parkplatz vor dem Motel war Tag und Nacht beleuchtet.

Das Bett bestand aus einem einfachen, grau gestrichenen Metallgestell. Darauf lag eine dünne, durchgelegene Matratze. Er kannte diese Art von Bett gut. Erst aus dem Kinderheim, später dann aus dem Gefängnis. Das Bettzeug darauf war alt, vergraut, an vielen Stellen geflickt. Man hatte es zwar gewaschen, aber nicht gebügelt. Hätte er das Bettlaken angehoben und die Matratze betrachtet, hätte er dort Flecken von Urin, Menstruationsblut, Sperma und wohl auch von Erbrochenem vorgefunden. Unter dem Kopfkissenbezug, da war er sich sicher, würde es auch nicht besser aussehen.

Neben dem Bett stand ein einfacher Nachttisch ohne Schublade aus grau gestrichenem Holz. Die Farbe war an vielen Stellen abgeplatzt. Die Stellfläche war zerkratzt, eine Zigarette hatte sich langsam in Farbe und Holz hineingebrannt und so eine zentimeterlange Narbe hinterlassen. Ein gewisser „Curt“ hatte seinen Namen hineingekratzt, dazu verunstalteten ein Hakenkreuz und „AC/DC“ die abgenutzte Oberfläche.

Auf dem Tisch stand eine einfache Nachttischlampe. Sie war eingeschaltet, momentan die einzige schwache Lichtquelle im Raum. Der Schirm war mit Stoff bespannt, auch er wohl einst weiß. Aber Zigarettenqualm, Bierflecken, Fettfinger und diverse obszöne Kritzeleien, darunter ein erigierter Penis, hatten ihre Spuren darauf hinterlassen. Zudem wiesen zahlreiche Knicke in der Bespannung darauf hin, dass die Lampe etliche Male vom Tisch gefallen war.

Die Lampe warf einen schwachen Schein auf seine Ausrüstung, die er auf dem Bett ausgebreitet hatte. Seine Kleidung, sein Rucksack, seine Wanderstöcke, alles war dunkel gehalten. Am Fußteil des Bettes hatte er seine schwarze Gore-Tex-Jacke ausgebreitet. Irgendetwas schien sich darunter zu verbergen. Ein Gegenstand unter der Jacke drückte seine Kontur in den Stoff.

An der Wand, gegenüber vom Bett, stand eine altmodische, längliche Kommode aus dunklem Holz. Drei Fächer boten etwas Stauraum. Auch sie war von den Jahren gezeichnet. Angestoßen, zerkratzt, eines ihrer vier Beine passte nicht zu den anderen. Man hatte es anscheinend irgendwann ausgetauscht.

An der einen Seite der Kommode war ein großer, hoher Schminkspiegel angebracht. Er ließ sich zuklappen, wie bei einem Altar. Die Außenseiten der beiden äußeren Spiegel waren mit einem Dekor beklebt, das grauem Stein nachempfunden war. Zugeklappt erinnerte der Spiegel so an einen Grabstein ohne Aufschrift.

An der anderen Seite der Kommode stand ein alter Fernseher. Es war ein Gerät mit einer Bildröhre, wie es schon seit Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Als er vor drei Tagen im Motel ankam, versuchte er, das Gerät einzuschalten, aber es war tot. Anscheinend wusste das auch die Putzfrau, so es denn eine gab, denn auf der Bildröhre hatte sich eine dicke Staubschicht angesammelt.

Nein, es war kein Traum, er war wach. Das alte, heruntergekommene, stinkende Motel, nicht weit weg vom Trail, es war trostlos und grau. Aber genau aus diesem Grund hatte er es ausgewählt. Hier, da war er sich sicher, konnte er noch in bar zahlen, ohne Kreditkarte. Weder an der Rezeption noch auf dem Parkplatz gab es Überwachungskameras. Sein Mentor hatte ihm aufgetragen, keine Spuren zu hinterlassen. Vor allem keine digitalen.

Das greise Ehepaar, dem das Motel gehörte, nahm keine Notiz von ihm. Er zahlte im Voraus für eine Woche, obwohl er wahrscheinlich nicht so lange bleiben würde. Als er dem Alten hinter dem Tresen sagte, er bräuchte in der Woche keinen Zimmerservice, sah dieser ihn nur fragend an. Als er dann den Raum betrat, verstand er: Es gab hier bereits seit Jahren keinen regelmäßigen Zimmerservice mehr.

Langsam ging er vom Bad hinüber zum Spiegel. Frisch geduscht, ekelte er sich ein wenig, barfuß über den verdreckten Teppich zu gehen. Die Haare und der Dreck würden an seinen Füßen haften bleiben. Aber letztendlich war ihm das egal.

Er blieb vor dem Spiegel stehen, klappte die beiden äußeren Teile zur Seite. Die Glasfläche war an vielen Stellen blind, die Verspiegelung hinter dem Glas hatte sich nach all den Jahren abgelöst. Er betrachtete das Abbild seines nackten Körpers. Die Beschädigungen in der Verspiegelung übertrugen sich auf sein Spiegelbild. Es schien, als überzögen schwarze Löcher und Risse seinen Körper.

Von Natur aus war er, wie alle Rothaarigen, eher blass. Dennoch fiel der helle, fast weiße Fleck in seiner Körpermitte sofort auf. Unter der Dusche hatte er sich die Haare auf dem Bauch, an den Oberschenkeln und im Genitalbereich abrasiert. Keine Spuren hinterlassen, so hatte er es von seinem Mentor gelernt. Zwar würde er noch eine andere Methode einsetzen, um seine Spuren zu vernichten, aber sicher war sicher. Keine Spuren hinterlassen.

Er war schmächtig, fast schon dürr. Seine Hüftknochen, Rippen und Schlüsselbeine traten hervor. In seiner Kindheit und Jugend trieb er so gut wie keinen Sport. Erst bei der Army fing er mit so etwas wie regelmäßigem Training an. Auch die schlechte Ernährung in seinen ersten Lebensjahren trug ihren Teil dazu bei, dass er sich körperlich schlecht entwickelte.

Seine Unterarme wiesen zahlreiche Narben auf. Er hatte sie sich selbst zugefügt, über viele Jahre hinweg. Auf seinem linken Unterarm, knapp unter dem Ellenbogen, befand sich eine zerschnittene Tätowierung. Nur wer es wusste, konnte darin noch den Namen „Franky“ erkennen.
Er erinnerte sich daran, wie sie ihm, vor vielen Jahren, diese Tätowierung unter Schmerzen in die Haut schnitten. Zwei Jungs hielten ihn fest, ein dritter ritzte ihm – mit der winzigen Klinge eines Bleistiftspitzers – den Namen in die Haut. Anschließend rieb er ihm schwarze Asche in die Wunde. „Du gehörst jetzt Frank, du kleine, beschissene Nutte. Nur ich werde dich ficken, ist das klar?“ Jedes Mal, wenn er die Tätowierung erblickte, hörte er Franks Stimme.

Auch auf seinem rechten Oberarm gab es eine Tätowierung. Sie war neueren Datums, sauber gestochen in einem satten Schwarz. Es war nur ein Wort – „INFIDEL“, gottlos, in dicken Versalien, darunter nochmals in arabischer Schrift. Die elegant geschwungenen arabischen Schriftzeichen setzten sich deutlich von den lateinischen Lettern ab.

Diese Tätowierung war eine Erinnerung an seine Zeit bei der Army. Es war eine gute Zeit für ihn, vielleicht die beste Zeit seines Lebens. Hätten sie ihn nicht unehrenhaft entlassen, vom Hof gejagt wie einen Hund, dann wäre er wahrscheinlich Berufssoldat geworden. Wer weiß, dachte er, vielleicht wäre er dann nicht hier.

Er blickte in sein Gesicht. Ein ovaler Kopf, kurze, rotbraune Locken. Seine dünnen Lippen verdeckten schlechte, schief stehende Zähne. Dazu eine Stupsnase: Blickte er geradeaus, konnte man ein wenig in seine Nasenlöcher hineinblicken. Auf der Nase und unter den Augen zeigten sich zahlreiche Sommersprossen. Ein schwacher Bartflaum hing an seinen Wangen.
Unter seinen dünnen, rotblonden Augenbrauen blickten ihm seine dunkelbraunen Augen entgegen. Sie waren auffallend rund, wie bei einem Hai. Seine fast nicht vorhandenen, ebenfalls rotblonden Wimpern verstärkten diesen Eindruck noch. Lächelte er, was nur äußerst selten vorkam, lächelten seine Augen nicht mit. Wie bei einer Puppe blieb sein Blick kalt und ausdruckslos.

Als er sich vom Spiegel wegdrehte, kam er nicht umhin, über seine Schulter zu schauen. Auch auf seinem Rücken gab es Narben, tiefe Narben. Zehn lange Striemen zogen sich quer über sein Kreuz. Er konnte sich nur noch schwach an den Tag erinnern, an dem es passierte. Es war in einem Wohnwagen, in einem Trailer-Park. Er schlief auf dem Fußboden. Als er erwachte …

Er ging hinüber zum Bett, zwang sich, an etwas anderes zu denken: Heute würde er auf den Trail gehen. Vielleicht schon heute Nacht wäre er im Einsatz. An alles hatte er gedacht, einiges geprobt und ausprobiert, bereits im letzten Jahr. Der Plan seines Mentors würde aufgehen, da war er sich sicher.

Langsam zog er sich an. Zuerst dunkle Unterwäsche und Socken, dann eine graue Trekkinghose. Sie bestand aus einem elastischen Stoff, zudem hatte er sie eine Nummer zu groß gekauft. Er würde sie beim Einsatz anlassen, nur den Reißverschluss öffnen.

Er setzte sich auf das Bett, das leise quietschend protestierte. Nach vorn gebeugt zog er sich die Schuhe an. Es waren Trailrunning-Schuhe, wie sie viele Hiker auf dem PCT trugen. Wie auch bei seiner restlichen Ausrüstung hatte er darauf geachtet, dunkle Farben zu wählen. Er wäre nachts im Einsatz. Wie ein Schatten würde er sich durch die Dunkelheit bewegen, nahezu unsichtbar.
In die Sohle war das Relief einer Raubtierpfote eingearbeitet. Ein Ballen, fünf Zehen, fünf Krallen. Trail Claw, so nannte der Hersteller dieses Muster. Ihm gefiel der Gedanke, dass es die Spuren eines Raubtiers wären, wenn er Spuren hinterließe. Er lächelte, schnürte beide Schuhe fest zu.

Bei der Jacke hatte er sich für eine schwarze Laufjacke entschieden. Das Besondere daran: Ärmel und Kapuze ließen sich durch einen Reißverschluss abtrennen. Würde er tagsüber auf dem Trail wandern, konnte er einfach eine luftige Weste daraus machen. Nachts, beim Einsatz, würden ihm das matte Schwarz und die tief ins Gesicht gezogene Kapuze eine gute Tarnung bieten.
Vorsichtig nahm er die Jacke vom Bett und zog sie über. Er schloss den Reißverschluss, setzte die Kapuze jedoch zunächst nicht auf.

Aus den Taschen der Jacke zog er ein Paar ebenfalls schwarze, ultradünne Gore-Tex-Handschuhe. Er streifte sie über, sie saßen wie maßgeschneidert an seinen Händen. Beim Einsatz wollte er seinen Tastsinn nicht verlieren – da waren die dünnen und zugleich atmungsaktiven Handschuhe ideal. Dennoch würde er zur Sicherheit noch ein Paar schwarze OP-Handschuhe darüberziehen.

Auf dem Bett, wo eben noch die Jacke gelegen hatte, lagen seine zwei wichtigsten Ausrüstungsgegenstände. Zunächst nahm er das Messer auf, ein sogenanntes Karambit. Die Klinge war gebogen, dabei rasiermesserscharf. Von der Form her erinnerte sie an den Schnabel eines Raubvogels oder die Kralle eines Tigers. Am Ende des Griffs befand sich ein kreisrunder Ring, durch den man den Zeigefinger oder auch den kleinen Finger stecken konnte. Man konnte so die Hand öffnen, ohne dass das Messer zu Boden fiel. Als Küchenwerkzeug war ein Karambit nicht zu gebrauchen – als Waffe war es jedoch ideal.

In Afghanistan sah er, dass viele seiner Kameraden ein Karambit, ausgeführt als Klappmesser, besaßen. Ein Clip hielt es sicher am Gürtel, über einen Daumenpin ließ es sich blitzschnell öffnen. Umgehend besorgte er sich ebenfalls eines dieser Mordinstrumente.

Das mattschwarze Modell, das er mit auf den Trail nehmen würde, war bereits sein zweites Messer dieser Art. Bevor sie ihn damals aus Afghanistan zurückschickten, beschlagnahmten sie diese Waffe.

Er klemmte sich das Messer an den Gürtel, dann griff er nach dem Herzstück seiner Ausrüstung. Vorsichtig zog er das Nachtsichtgerät über seinen Kopf, befestigte es mit breiten Riemen vor seinen Augen. Es glich einer schwarzen Taucherbrille, an der man ein schwarzes Fernglas befestigt hatte. Nur war dieses Nachtsichtgerät etwas Besonderes: Es war ein digitales Nachtsichtgerät.

Das „Fernglas“ bestand aus zwei Infrarotlicht-Lampen, in deren Mitte sich eine digitale Infrarot-Kamera befand. Setzte man es auf, blickte man auf einen Bildschirm, der einem ein Schwarz-Weiß-Bild der Umgebung zeigte. Mit diesem Nachtsichtgerät konnte man sich auch in tiefster Dunkelheit umsehen und bewegen.

Aber dies war nicht die einzige Besonderheit. An der Seite befand sich, neben dem Einschaltknopf, ein kleiner Schlitz, nur einen Zentimeter breit. In dem Schlitz steckte eine SD-Karte mit einer Kapazität von 256 Gigabyte.
Das Nachtsichtgerät hatte eine Aufnahmefunktion. Er würde alles, was er bei seinen Einsätzen in den kommenden Monaten erleben würde, aufzeichnen. Zwar nur in Schwarz-Weiß und ohne Ton, aber dennoch – alle seine Einsätze würden so für die Ewigkeit erhalten bleiben.

Niemals wäre er auf die Idee mit dem Nachtsichtgerät gekommen, schon gar nicht die mit der Aufnahmefunktion. Aber sein Mentor hatte ihn darauf gebracht. Sein Mentor, sein genialer Mentor.

Er ging hinüber zum Tisch, löschte das Licht. Das Nachtsichtgerät über den Augen, streifte er die Kapuze über den Kopf. Er schaltete das Gerät ein. Vor ihm erschien, wie in einer Geisterwelt, ein Abbild seines Motelzimmers. Die Auflösung des Displays war nicht allzu hoch, etwas pixelig. Alles sah aus, als hätte man es mit Kreide auf eine Schiefertafel gemalt.

Vorsichtig und leise schlich er hinüber zum Spiegel. Langsam löste er das Karambit vom Gürtel, öffnete die Klinge. Fasziniert betrachtete er sein Spiegelbild.

Sein Atem ging schwer, sein Herz pochte. Er bildete sich ein, das Muster der Krallen unter seinen Schuhsohlen zu spüren. Er blickte auf seinen Arm, an dessen Ende die rasiermesserscharfe Klaue des Karambit aus seiner Faust ragte.

Er war ein Raubtier. Ein Raubtier, das im Dunkeln sehen konnte. Heute Nacht schon würde er auf die Jagd gehen. Beute machen.

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PCT, 14. Mai. Südkalifornien, irgendwo hinter Agua Dulce

Evelin saß vor ihrem Zelt, einem kleinen Ultraleichtzelt für eine Person. Kurz vor Sonnenuntergang war es noch immer drückend warm, aber in den oft sternenklaren Nächten konnte die Temperatur auch in der Wüste schnell in den einstelligen Bereich absinken.

Das Zelt aufbauen, die Isomatte aufblasen, den Rucksack auspacken, Wasser mit dem Gaskocher erhitzen – und dann, endlich, nach einer langen Tagesetappe, ein heißes Abendessen. Hier waren sich alle Hiker einig: Das Abendessen war das Highlight eines jeden Wandertages.

Chicken with dumplings, Hühnchen mit Knödeln, war eines von Evelins Lieblingsgerichten. Der Beutel mit zwei Portionen brachte es nur auf 600 Kalorien. Evelin mischte jedoch noch etwas Käsecreme und Olivenöl dazu sowie einige Erdnüsse. So aufgepeppt, kam die große Portion auf gut 1.000 Kalorien, damit ließ sich schon etwas anfangen. Sie würde sich heute Abend richtig satt essen, einen kleinen Teil für morgen früh aufheben.

Die heutige Etappe war extrem heiß gewesen, teilweise stiegen die Temperaturen auf 40 Grad. Dazu wehte stellenweise ein starker Wind, mit dem sie in der Wüste nicht gerechnet hatte. Die Hitze machte ihr zudem zu schaffen, sie hatte daher ihr heutiges Tagesziel von 40 Kilometern nicht erreicht. Nach etwas mehr als 30 Kilometern war die Luft raus.
Sie hatte gehofft, dass Becky, mit der sie heute ein ganzes Stück zusammen gewandert war, bei ihr bleiben würde. Aber Becky war zäh. Sie wollte mindestens noch zehn Kilometer weitergehen, vielleicht sogar noch bis in die Nacht hinein weiterwandern. Sie hatte sich ein Tagesziel von 45 Kilometern gesetzt. Verrückt, bei dieser Hitze.

Evelin hatte ihr Zelt etwas versteckt aufgebaut, gut 50 Meter vom eigentlichen Trail entfernt. Wenn man allein in der Wildnis campt, so war ihr geraten worden, war es nicht empfehlenswert, direkt neben dem Trail zu schlafen. Es kam hin und wieder vor, dass Hiker nachts bestohlen wurden. Aber hier würde niemand ihr Zelt entdecken.

Sie ließ den Blick in die Ferne schweifen. Nach links, in Richtung Süden, konnte sie die Hügel und Täler sehen, die sie heute durchwandert hatte. Eine schroffe Wüstenlandschaft, die kaum Schatten bot. Im Licht des Abends leuchteten der Sand und die Steine in warmen Rot- und Orangetönen. Staub, aufgewirbelt vom Wind, sammelte sich in den Tälern, die Abendsonne ließ auch ihn wie zarten, roten Nebel leuchten.

Nach rechts hin wurde es grüner. An einem langgezogenen Hang wuchsen Büsche, blühte der Kalifornische Mohn. Präriegras bedeckte den Boden, vereinzelt sah man Kakteen. Vögel gab es hier draußen so gut wie keine, aber einige Grillen zirpten leise vor sich hin.

Am Himmel über ihr hing ein Meer von Schäfchenwolken. Als die untergehende Sonne zwischen Horizont und Wolkendecke herabsank, sah es aus, als würde der Himmel brennen. Every day a postcard, jeden Tag ein Postkartenmotiv, so lautete ein Spruch auf dem Trail. Dieser wunderbare Sonnenuntergang war heute ihr ganz persönliches Postkartenmotiv.

Sie stellte den Beutel mit dem Essen neben dem Stuhl ab, zog ihr Smartphone aus der Tasche. Im Sitzen machte sie mehrere Fotos. Gern hätte sie ihren Eltern ein Bild per E-Mail geschickt, aber hier draußen in der Wildnis gab es weder eine Telefon- noch eine Internetverbindung. Erst im nächsten Ort, Tehachapi, würde sie wieder telefonieren und mailen können.

Die einzige Möglichkeit, hier draußen elektronisch zu kommunizieren, war ihr Garmin inReach. Das kleine Gerät konnte über das Iridium-Satellitennetz SMS-Nachrichten versenden und empfangen.
Die SMS wurden auf den Servern der Firma Garmin in E-Mails umgewandelt und konnten so an zuvor festgelegte Empfänger verschickt werden.

Das inReach war der einzige Grund, warum ihre Eltern ihr überhaupt gestatteten, allein auf dem Trail zu wandern. Nachher, kurz vor dem Schlafengehen, würde sie – wie jeden Abend – eine kurze Nachricht an Mum und Dad senden: Es ging ihr gut, ein schöner Wandertag, alles okay auf dem Trail. Dazu beinhaltete die Nachricht einen Link mit ihren Koordinaten. Ihre Eltern konnten so auf Google Maps ihre Wanderung mitverfolgen.

Sie hatte gewusst, dass es Diskussionen wegen ihrer Idee mit der Wanderung geben würde. Aber nach der High School wollte sie, bevor sie auf das College ging, eine Auszeit nehmen, Amerika entdecken. Nach dem Studium wäre sie hoch verschuldet, da würde sich eine Pause von einem Jahr nur schwer verwirklichen lassen.

Ihre Eltern hatten sie gewarnt, dass der Trail gefährlich sei. 4.300 Kilometer, zu Fuß durch die Wildnis. Man schläft größtenteils im Freien. Hitze in der Wüste, Schnee in den Bergen, dazu reißende Bäche aus Schmelzwasser in den Sierras. Tatsächlich verunglückten jedes Jahr viele Wanderer auf dem Trail, einige starben sogar.

Ihr Vater war zudem besorgt wegen der wilden Tiere. In der Wüste gab es Klapperschlangen und Skorpione, Kojoten, vereinzelt auch Pumas. In den Sierras, in Oregon und später in Washington, gab es Braun- und Schwarzbären. Ganz oben auf dem Trail, fast schon in Kanada, wurden manchmal auch Grizzlys gesichtet. Aber es kam hier nur selten zu Begegnungen zwischen Mensch und Tier.

Tatsächlich hatte sie vor zwei Tagen eine Klapperschlange gesehen. Das Tier lag mitten auf dem Trail, versperrte ihr den Weg. Sie musste ausweichen, um weiterzukommen. Sie war nicht abergläubisch, aber für einen Moment kam es ihr wie eine Warnung vor: Evelin, geh nicht weiter. Sie machte ein Foto von der Schlange, ging um das Tier herum, setzte ihre Wanderung fort.

Die Sonne war jetzt fast hinter dem Horizont verschwunden. Mit der einsetzenden Dunkelheit würde es schnell frisch werden. Sie verzehrte ihr Abendessen bis auf einen kleinen Rest. Nach einer kurzen Katzenwäsche würde sie eine Nachricht an ihre Eltern absenden, dann ging es ab in den Schlafsack. Zuvor jedoch würde sie den Beutel mit der restlichen Mahlzeit etwas abseits vom Zelt deponieren. Raubtiere hatten ja bekanntlich einen guten Geruchssinn, daher sollte man angebrochene Speisen nicht unmittelbar am oder gar im Zelt aufbewahren.

Vor dem Einschlafen sah sie sich, wie jeden Abend, noch einmal die Fotos an, die sie heute und in den vergangenen Tagen aufgenommen hatte. Viel Wüste, viele Sonnenauf- und -untergänge, viele andere Hiker. Viele glückliche Gesichter, trotz der Anstrengungen.

Sie deaktivierte ihr Handy, auch das Garmin inReach schaltete sie ab. Sie würde jetzt schlafen, und morgen, noch vor der Dämmerung, weiterwandern. Vielleicht würde sie Becky ja wieder einholen? Sie hatte sich gut mit ihr unterhalten, ein toller Hiker Buddy.

Eingekuschelt in ihren Schlafsack freute sie sich auf den kommenden Tag. Ein weiterer, wundervoller Tag auf dem Pacific Crest Trail wartete auf sie.

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17. Mai, drei Tage später

Die beiden Männer ritten hintereinander auf dem schmalen Trampelpfad. Bekleidet waren sie mit den hellbraunen Uniformen der kalifornischen Nationalpark-Ranger. Auf dem Kopf trugen sie breitkrempige, runde Hüte aus dunkelbraunem Filz, die sie hervorragend vor der Sonne schützten. Kinnriemen als Leder sorgten dafür, dass ihnen die Hüte nicht vom Kopf geweht wurden.

Hinter ihren Sätteln und in ihren Satteltaschen hatten sie reichlich Ausrüstung dabei, Nahrung, Wasser, ein Zelt, einen Erste-Hilfe-Koffer. Sie ritten langsam, denn heute Vormittag war es besonders heiß. Sie würden noch gut zwei Stunden brauchen, bis sie ihr Zielgebiet erreichten.

Normalerweise waren sie nicht zu zweit unterwegs. Aber wenn jemand vermisst wurde, dann war das etwas anderes. Vier Augen sahen bekanntlich mehr als zwei. Und auch wenn man jemanden bergen musste, einen Verletzten oder Kranken, dann war dies zu zweit in der Regel einfacher.

„Weißt du, Ryan, als ich jung war, da hatten die Frauen noch Haare an der Muschi.“ Ryan, der deutlich älter war als sein Kollege, lachte. Es war eine tiefe, dreckige Lache. Er drehte den Kopf nach hinten, sprach über die Schulter gewandt: „Simon, als ich jung war, da hatten die Frauen sogar noch Haare an den Beinen.“ Jetzt war es Simon, der ein leises Lachen von sich gab.
Den Kopf wieder nach vorn gerichtet, fuhr Ryan mit lauter Stimme fort: „Kein Witz, Sim, als ich Mary vor 41 Jahren das erste Mal nackt gesehen habe, da war das ein ganz schöner Schock für mich. Sie hatte mehr Haare an den Beinen als ich. Ehrlich!“

Er stoppte das Pferd, drehte das Tier etwas quer zum Pfad. Er hielt seine rechte Hand vor den Bauch, erzählte weiter: „Zwischen den Beinen hatte sie so einen Busch. Ungelogen. Fast schon ein Afro.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf, hob den linken Arm. „Und unter den Armen schaute ihr jeweils ein Pfund Sauerkraut hervor.“

Simon, der ebenfalls angehalten hatte, lachte laut, warf dabei den Kopf in den Nacken. Er wollte antworten, aber Ryan, dessen fleischiges, von Falten durchzogenes Gesicht von einem Grinsen in die Breite gezogen wurde, war noch nicht fertig mit seinen Ausführungen.

„Wenn ich Mary damals aufgefordert hätte, sich die Beine oder sogar die Pflaume zu rasieren, dann hätten mich ihre Brüder wahrscheinlich gelyncht. Oder schlimmer noch, lebendig begraben. Solche perversen Fantasien durfte man damals bei uns in Texas nicht von sich geben. Ich war schon froh, dass sie ihren Damenbart regelmäßig stutzte.“

Ryan hatte kein Problem damit, die starke Körperbehaarung seiner Frau ungeniert zum Thema zu machen. Die beiden waren jetzt seit 40 Jahren verheiratet, hatten gemeinsam sieben Kinder großgezogen. Auch Mary, da war er sich sicher, würde bei ihren Freundinnen seine Makel genüsslich ausbreiten. Sie waren halt beide echte texanische Lästermäuler.

Die Männer setzten ihren langsamen Ritt fort. Simon war aber mit dem Thema noch nicht fertig. „Das mit den rasierten Muschis ging los vor so 20 Jahren. Damals bekamen wir Internet und damit auch einfachen Zugang zu Pornos. Die Mädels in den Filmen waren ja alle rasiert, und jetzt plötzlich wurde das zur Mode.“

Die Landschaft war steinig und karg. Sie kamen von Norden, entgegen der Richtung, in der die meisten PCT-Hiker wanderten. Die Idee dahinter: Sollte dem Mädchen nur der Strom ausgegangen sein und sie sich deshalb nicht bei ihren Eltern melden, würden sie sie vielleicht auf dem Trail treffen. Aber die Kleine war seit zwei Tagen überfällig, und alle Hiker, die sie bisher angetroffen und befragt hatten, wussten nichts von einer Evelin Shoemaker.

Simon zog ein Tuch aus seiner Tasche, wischte sich damit den Schweiß aus dem Gesicht. „Und genauso ging es dann weiter mit den Tätowierungen und Piercings. Ursprünglich gab es so etwas nur im Rotlichtmilieu. Von da aus wanderte diese Mode dann in die Pornos. Heute triffst du auf dem Trail keine Frau mehr an, die nicht tätowiert und rasiert ist.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Und wahrscheinlich auch gepierct.“

Ryan überlegte, was er Sim – wie er Simon nannte – antworten sollte. Aber er musste passen. Er war jetzt 60 Jahre alt, und in dieser Zeit hatte er mit keiner rasierten, tätowierten oder gepiercten Frau geschlafen. Schlimmer noch: Seit zwei Jahren hatte er mit überhaupt keiner Frau mehr geschlafen. Aber das würde er Sim nicht auf die Nase binden.

Sim setzte seinen Vortrag über den Verfall der Sitten fort: „Daran kannst du sehen, welchen Einfluss die Medien auf die Gesellschaft haben. Ohne die massenhafte Verbreitung von Pornografie durch das Internet gäbe es diesen Trend nicht. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass viele Frauen hier nicht freiwillig dabei sind. Sie stehen unter dem Druck, mit den Darstellerinnen in den Pornos mitzuhalten.“

Auch dazu konnte Ryan nicht viel zu sagen. Klar, er hatte sich früher mal einen Playboy oder Hustler gekauft. Und natürlich hatte er sich auch schon mal einen Porno auf dem Handy angesehen, sich dabei einen runtergeholt. Aber so, wie seine Eltern ihn erzogen hatten, war Pornografie für ihn vor allem eines: Dreck, Schund. Er schämte sich jedes Mal, nachdem er sich einen dieser Filme angesehen hatte.

Das Thema wurde ihm unangenehm. Er beschloss, den Fokus ihrer Unterhaltung umzulenken: „Als ich damals, vor 35 Jahren, selbst den PCT gewandert bin, gab es auf dem Trail so gut wie keine Frauen. Den Trail wandern, das war eine echte Männersache.“

Er überlegte, ob er Sim die Geschichte schon einmal erzählt hatte. Aber selbst wenn: Sim war nicht der Hellste. Es würde nicht schaden, wenn er sie ihm noch einmal erzählte. „Im Gegensatz zu heute war ein PCT-Hike damals ein echtes Abenteuer. Das fing schon mit der Ausrüstung an. Mein Rucksack war ein altes Armee-Modell, mit einem Tragegestell aus Holz. Allein der wog schon fast vier Kilo. Das Zelt bestand aus gewachster Baumwolle, es wog mindestens drei Kilo. Vergleich das mal mit einem Zelt von heute!“

Er drehte den Kopf wieder zu Seite, sprach nach hinten: „Die meisten Zelte wiegen heute unter einem Kilo, die Rucksäcke ebenfalls. Ich hatte damals fast immer 20 Kilo Gepäck auf dem Buckel, auf dem gesamten Trail. So was schafft eine Frau doch gar nicht.“

Simon hatte die Zügel losgelassen, presste sich die Hände auf die Ohren. Er kannte die Story bereits, hatte sie etliche Male gehört. Aber Ryan war eben schon etwas verkalkt, dachte er. Es war nicht zu ändern, er würde sich das Ganze noch einmal anhören müssen.

„Auch bei der Bekleidung sah es ganz anders aus. Atmungsaktive und gleichzeitig winddichte und wasserfeste Stoffe gab es nicht. Ich hatte einen Wollpullover dabei, ein Regencape von der Army. Bei meinem Parka konnte man das Innenfutter rausnehmen, das war es. Und Wanderschuhe aus Gore-Tex gab es auch nicht. Ich besaß ein paar einfache, robuste Lederschuhe, die über 2.000 Kilometer gehalten haben.“

Simon wusste, was jetzt kommen würde: Erst der Teil mit der Elektronik, dann die Themen Verpflegung und Navigation. Aber zu seinem Erstaunen wich Ryan vom gewohnten Programm ab: „So etwas wie ein Garmin inReach, davon konnte man damals nur träumen. Aber tatsächlich ist das verdammte Ding heute der Hauptgrund, warum wir immer wieder rausmüssen, Leute suchen. Die können das Teil entweder nicht richtig bedienen, oder sie laden den Akku nicht rechtzeitig nach. Mummy und Daddy erreichen keine Nachrichten mehr, sie bekommen Panik, und wir müssen raus, die Kids suchen.“

Simon nickte. So war es auch in diesem Fall. Evelin meldete sich mindestens zweimal täglich bei ihren Eltern. Morgens nach dem Aufstehen und abends, wenn sie zu Bett ging. Die letzte Meldung war jedoch zwei Tage her. Seitdem war Funkstille. Immerhin kannten sie ihre letzte Position.
Er und Ryan gingen davon aus, dass es so sein würde wie immer: ein leerer Akku oder ein defektes Gerät. Sie hatten eine Wette abgeschlossen: Ryan hatte 20 Dollar auf ein kaputtes Gerät gesetzt, Simon hielt mit 20 Dollar dagegen. Er tippte auf den Akku.

Er hatte gehofft, dass Ryan jetzt Ruhe geben würde, dass ihn die verdammte Hitze zum Schweigen brachte. Aber er täuschte sich. „Weißt du, wie mein Gaskocher und meine LED-Taschenlampe damals aussahen? Ein Benzinfeuerzeug hatte ich, das war’s!“ Simon verdrehte genervt die Augen. Noch zwei lange Stunden bis zur letzten Position von Evelin Shoemaker.

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Zehn Kilometer weiter südlich

„So, jetzt habe ich dir meinen Lebenslauf erzählt, alle meine Schandtaten gebeichtet. Jetzt bist du an der Reihe, Sarge.“
Erick Turner, Trail-Name „Mighty Oak“, mächtige Eiche, saß im Schneidersitz auf dem sandigen Boden. Er war dabei, sich einen Joint zu drehen. Erick war dreißig, kam aus Detroit, war seit kurzer Zeit arbeitslos. Mark mochte den fast zwei Meter großen, ruhigen Mann mit der tiefen Stimme auf Anhieb.

Die beiden Hiker hatten sich erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Beide wanderten allein, ohne Gruppe oder festen Partner. Nur wer allein wandert, so hieß es, erlebt den Trail wirklich intensiv. Wandert man zu zweit oder in der Gruppe, dann wird viel geredet und diskutiert. Man taucht nicht ein in den Trail, verschmilzt nicht mit der fantastischen Natur Nordamerikas. Dennoch war es schön, alle paar Tage eine Zeit lang mit einem Hiker Buddy zusammen zu wandern. Ohne es bewusst zu vereinbaren, hatten Mark und Erick beschlossen, dass sie für heute ein Team bilden würden.

Mark hatte sich gegenüber von Erick auf einen flachen Stein gesetzt. Er hatte, unter Zuhilfenahme seiner Wanderstöcke, sein Trap aufgespannt. Jetzt bot es ihm einen guten Schutz gegen die Sonne. Erick hatte es einfacher: Er hatte einen großen, silbrig glänzenden Trekkingschirm, unter dem er sich vor der Sonne versteckte.

Seine Schuhe und Socken hatte Mark ausgezogen, er gönnte seinen geschundenen Füßen etwas Luft. Er war seit fünf Uhr morgens unterwegs. In der Wüste war es gut, möglichst früh zu starten, bevor die Hitze die Wanderung zur Qual machte. Von zwei bis um fünf würde er eine Siesta halten, dann bis in die Nacht hinein weiterwandern. Heute hatte er vor, mit der Stirnlampe auf dem Kopf bis zwei Uhr nachts Strecke zu machen.

Das Wasser in seinem Gaskocher dampfte jetzt. Er kippte es in seinen Titanbecher, in den er zuvor schon Instantkaffee und Zucker gegeben hatte. Erick wartete geduldig, bis Mark seine Vorbereitungen beendet hatte. Er zündete den Joint an, reichte ihn zu Mark hinüber. Der lächelte, machte mit der Hand eine ablehnende Geste. „Danke, aber ich rauche nicht.“

Er setzte sich bequem hin, prostete Erick zu: „Also, ich bin Mark Stetson, 38 Jahre alt. Ich komme aus Bishop, Kalifornien, wo wir in einigen Wochen ja auch vorbeikommen werden. Von Beruf bin ich Polizist, habe aber vor acht Jahren gekündigt. Ich bin dann zur Army, wo ich bei der Militärpolizei gedient habe. Zuerst in Afghanistan, dann im Irak.“

Erick nickte anerkennend, schmunzelte. Er zeigte auf Marks Kopf. „Dann verstehe ich jetzt auch, was es mit der Frisur und dem Trail-Namen auf sich hat: Sarge.“ Mark strich sich mit der rechten Hand über den Kopf. Sein Haupt zierte eine altmodische, früher beim Militär beliebte Frisur, ein sogenannter Flat. Dabei waren die Seiten nur wenige Millimeter lang. Das Deckhaar war ebenfalls sehr kurz geschnitten, wobei die abstehenden Haare auf dem Scheitel eine plane Fläche bildeten.

Mark erklärte: „Mein Vater, er war ebenfalls Polizist, trug zeitlebens einen Flat. Auch mein Bruder und ich wuchsen mit dieser Frisur auf. Ich glaube, der Friseur in Bishop, bei dem wir Stammkunden waren, beherrschte nur diesen einen Schnitt. Ich habe die Mode dann beibehalten, bis heute.“

Er trank einen Schluck heißen Kaffee, biss von seinem Müsliriegel ab. Erick zog derweil an seinem Joint, Mark konnte das Marihuana darin riechen. „Gleich am ersten Tag auf dem Trail hat mir ein Hiker den Trail-Namen Sergeant, kurz Sarge, verpasst. Ich war nicht böse drum, obwohl ich kein Sergeant bin.“ Es war üblich, dass die PCT-Hiker sich einen Spitznamen zulegten. Wer keinen vorzuweisen hatte, dem gaben andere Hiker einen.

Mighty Oak hüllte sich in eine Rauchwolke. „Was treibt denn einen geistig gesunden Menschen dazu, acht Jahre zur Militärpolizei zu gehen? Und dann auch noch in Kriegsgebieten? Bist du so ein überzeugter Patriot?“
Geistig gesund, das ist nicht gerade freundlich. Aber Mark nahm Erick die Spitze nicht übel. Das war es, was Mark an ihm mochte: Er war offen und geradeheraus.

Er lächelte gequält. „Ich hatte eigentlich nicht vor, zur Army zu gehen. Aber meine Verlobung platzte damals, kurz vor der Hochzeit. Ich wollte nur noch weg aus Bishop, weg aus den USA. Vor einem Supermarkt sprach mich ein Werber der Army an. Ich unterschrieb, ohne lange nachzudenken. Für acht lange Jahre.“

Ohne dass er es verhindern konnte, erschienen vor seinem geistigen Auge die Bilder von damals. Er hatte die Sache noch immer nicht komplett überwunden.
Er hatte Dienst gehabt, Spätschicht. Um zehn Uhr abends waren die Zahnschmerzen so stark, dass er sich von einem Kollegen nach Hause fahren ließ. Er stieg an der Straße aus, wollte Scarlett nicht wecken. Leise schlich er zur Haustür hinein, als er die Geräusche hörte: lautes, lustvolles Stöhnen.

Er zog seine Dienstwaffe, dachte, dass vielleicht jemand in das Haus eingedrungen wäre, seine Freundin vergewaltigen würde. Aber als er in die Küche blickte, war ihm klar, dass es keine Vergewaltigung war.
Scarlett lag auf dem Küchentisch, nackt, die Beine weit gespreizt. Vor ihr stand Jeff, ein 130 Kilo schwerer, muskelbepackter Bodybuilder. Er war Trainer und zudem Besitzer des Fitnessstudios, in dem Scarlett zweimal die Woche trainierte. Er hielt ihre Füße umklammert, sein Unterkörper bewegte sich rhythmisch vor und zurück. Seine Haut hatte eine unnatürliche Bräune, wohl vom Solarium oder durch einen Selbstbräuner. Er sah aus wie ein Grillhähnchen. Ein Grillhähnchen fickt meine Verlobte, ging es Mark durch den Kopf.

Er stand unter Schock. Scarlett und er kannten sich seit der High School, waren seit sechs Jahren ein Paar. In einigen Monaten wollten sie heiraten, eine Familie gründen. Scarlett war eine zurückhaltende Frau, fast schon schüchtern. Sie betete jeden Abend vor dem Schlafengehen, ging regelmäßig in die Kirche. Nicht im Traum hätte er sich vorstellen können, dass sie ihn betrog – und dann auch noch mit einem hässlichen, durch Steroide aufgeblasenen Bodybuilder.

Er richtete die Pistole auf die beiden, die ihn immer noch nicht bemerkten. Für einen kurzen Moment dachte er ernsthaft darüber nach, sie zu erschießen. Aber dann gab er nur einen Schuss in die Decke über dem Küchentisch ab.
Jeff wurde vor Schreck fast ohnmächtig. Er ließ Scarlett los, taumelte zurück. Er sah Mark mit geweiteten Augen an. Sein großer, erigierter Penis zeigte wie eine Waffe auf ihn. Scarlett riss sich die Hände vors Gesicht, sie schrie vor Angst – oder vor Scham.

Mark drehte sich um, verließ das Haus. Er ging zu Fuß zu einem Motel, nahm sich ein Zimmer. Die Nacht verbrachte er wie in Trance. Er schickte Scarlett eine SMS: Um sechs Uhr nachmittags komme ich nach Hause.
Als er am nächsten Abend zu Hause ankam, war sie weg, ausgezogen. Ein Großteil der Möbel, ihre Kleider, alles fort. Keine Nachricht, keine Erklärung, kein Abschiedsbrief.

Mark war klar, dass er nicht in Bishop bleiben konnte. Bishop war ein Nest, die Sache würde sich schnell herumsprechen. Er ließ sich unbezahlten Urlaub geben, kündigte das Haus, nahm sich ein Zimmer außerhalb der Stadt.

Es war, als ob der Teufel selbst die Sache geplant hätte. Keine drei Tage nach dem Vorfall traf er den Werber der Army. Dessen Angebot: Militärpolizist im Ausland, keine Kampfeinsätze, guter Sold, fette Zulagen. Und auch nach der Zeit bei der Army würde man ihn großzügig unterstützen. Er war dabei. Raus, nur weg aus Bishop.

Erick holte ihn aus seinen Träumen zurück: „Ey Mann, was los, bist du eingepennt? Ich dachte, ich bin es, der hier bekifft ist.“
Mark schüttelte den Kopf. „Sorry, mir ist da gerade was eingefallen. Na ja. Nachdem ich meine Zeit bei der Army hinter mir hatte, war für mich klar: Ich gehe erst mal auf den Trail. 4.300 Kilometer, sechs Monate, nur ich und die Wildnis. Wir sind früher schon immer mit meinem Vater an den Wochenenden in den Wald gefahren, zum Fischen und Jagen. Draußen schlafen, Lagerfeuer, unberührte Natur, das ist genau mein Ding. Und bis jetzt ist der Trail genauso wie ich ihn mir vorgestellt habe: einfach großartig!“

Mark trank den restlichen Kaffee, spülte den Becher mit einem Schluck Wasser aus. Erick nahm einen letzten Zug, dann drückte er den Stummel tief in den Sand. „So, Mann, dann lass uns mal ein bisschen Gas geben. In drei Stunden ist das hier ein Backofen, dann verkrieche ich mich irgendwo.“
Sie packten zusammen. Mark rieb sich seine durchtrainierten Arme mit Sonnencreme ein. Erick beobachtete ihn dabei. „Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Cop bist. Hab dich für einen Bauarbeiter gehalten, mit der bekloppten Frisur und dem dicken Bizeps. Auch der Trail-Name Popeye hätte dir gut zu Gesicht gestanden.“ Sie mussten beide lachen. Mark war guter Dinge, es würde bestimmt noch ein amüsanter Wandertag werden.

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Der Schweiß lief den Männern den Rücken herunter, ihre Hemden waren klatschnass. Die Sonne stand jetzt genau über ihnen. Sie hatten endlich die Stelle erreicht, von der sich Evelin Shoemaker zum letzten Mal gemeldet hatte.
Den Pferden machte die Hitze ebenfalls zu schaffen. Ryan und Simon saßen ab, sahen sich um. Kein Baum, nichts, was Schatten spenden konnte. Aber in einiger Entfernung lag ein großer Felsbrocken. Ryan zeigte hinüber: „Komm, Sim, wir bringen die Pferde da rüber und nehmen ihnen die Sättel ab. Da gibt es wenigstens etwas Schatten, und wir können ihnen dort was zu fressen und zu saufen geben. Wir machen eine kurze Pause, dann schauen wir uns um.“

Sie versorgten die Pferde, tranken beide selbst etwas Wasser. In dieser Gegend des Trails gab es keine Flüsse, Quellen oder Bäche. Hatte die Shoemaker es vielleicht versäumt, sich mit ausreichend Wasser zu versorgen? Unwahrscheinlich, dachte Ryan. Sie war ja schon geraume Zeit in der Wüste unterwegs, wusste genau, wie das hier lief.

Er zog sein Handy aus der Satteltasche, die jetzt am Boden lag. Er koppelte es mit seinem Garmin inReach. Über eine App, die Garmin Earthmate App, konnte er sich die letzte Position auf einer Karte anzeigen lassen. Außerdem konnte man über die App viel einfacher und komfortabler SMS-Nachrichten versenden. Er beschloss, zunächst der Ranger-Station eine Nachricht zu senden. Mit seinen dicken Fingern tippte er unbeholfen auf das Display: „Sind jetzt da. Sehen uns um. Melde mich. Ryan.“ Er wählte den Empfänger aus, klickte auf Senden.

Es dauerte kurz, dann gab das inReach eine aufsteigende Reihe von Pieptönen von sich. Die Nachricht war raus. Von hier aus in den Weltraum, zu irgendeinem der 66 Iridium-Satelliten. Dieser leitete die SMS an den Garmin-Server, der sie in eine E-Mail konvertierte und dann an die Ranger-Station weiterleitete.
„Hör zu, Sim, laut Karte ist die letzte Position etwas abseits vom Trail. Ich schaue mal da drüben hinter den Sträuchern und Kakteen. Du bleibst hier bei den Pferden, bis ich dich rufe. Pass wegen der verdammten Klapperschlangen auf, wo du hintrittst.“

Langsam und unbeholfen machte Ryan sich auf den Weg. Er war der ältere der beiden Männer und hatte auch den höheren Dienstrang. Er würde sich daher selbst auf die Suche machen, auch wenn der Hintern, der Rücken und die Füße von dem langen Ritt schmerzten. Er hatte sich zudem eine Damenbinde hinten in die Unterhose gesteckt. Seine verdammten Hämorrhoiden würden ihn irgendwann noch umbringen, dachte er.

Vorsichtig bewegte er sich zwischen den Büschen und Gräsern. Das mit den Klapperschlangen war kein Spaß. Er hoffte, dass sie mit ihrer Wette richtig lagen. Es wäre traurig, wenn das Mädchen hier irgendwo an einem Schlangenbiss gestorben wäre.

Er war bereits 30, vielleicht auch 40 Meter vom Trail entfernt. Unwahrscheinlich, dass sie ihr Zelt so weit weg vom Trail aufschlagen würde.
Er wollte bereits umkehren, als er einen unangenehmen Geruch bemerkte. Es roch nach verbranntem Kunststoff. Und dabei war auch etwas Süßliches, Stechendes. Er kannte diesen Geruch: Verwesung.

Müdigkeit und Erschöpfung wichen schlagartig aus seinem Verstand. Adrenalin schoss in seinen Körper. Sein Herz raste, eine böse Vorahnung stieg in ihm auf. Er folgte, noch vorsichtiger als zuvor, dem Geruch. Dabei entfernte er sich weiter vom Trail, der Geruch wurde stärker.

Er hatte nach einem Zelt Ausschau gehalten. Daher erschrak er umso mehr, als er plötzlich genau vor der Stelle stand, die den Geruch verströmte.
Das Zelt von Evelin Shoemaker war komplett heruntergebrannt. Nur noch ein schwarzes Rechteck ließ vermuten, wo es gestanden hatte. Inmitten des Rechtecks lag ein aufgedunsener, verbrannter, unförmiger Körper. Er hatte Evelin Shoemaker gefunden.

„O Gott, verdammt!“ Erschrocken wich er einen Schritt zurück. Ein Schwarm Fliegen erhob sich von dem schwarzen Klumpen, der dort auf dem Boden lag. Der Geruch, der schreckliche Anblick, dazu auch noch der Schreck: Ryan drehte sich um, erbrach sich heftig. Tränen schossen ihm in die Augen. Es war eher der Schock, keine Trauer.

Scheiße. Nächstes Jahr wollte er in Pension gehen, und jetzt noch so etwas. Das arme Mädchen. Während er sich weiter übergab, ahnte er schon, was passiert war: Sie hatte im Zelt gekocht. Viele Hiker unterschätzten die Gefahr, die davon ausging. Die hauchdünnen Kunststoffe, aus denen Zelt und Schlafsack bestanden, brannten wie Papier. Er hatte einen Film gesehen, wo ein mit Kunstfasern gefüllter Schlafsack angezündet wurde: Es dauerte nur Sekunden, bis das Feuer sich über den gesamten Schlafsack ausbreitete.
Ryan richtete sich auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er zum Lagerplatz zurück. Das arme Kind, dachte er. Hoffentlich hat sie nicht lange leiden müssen.

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Mark beneidete Erick um den Trekkingschirm. Er war nicht der erste Wanderer, den er mit dieser Art Schirm auf dem Trail sah. Mit zwei Clips ließ sich der Schirm am Tragegestell des Rucksacks befestigen. Man hatte die Hände frei, wanderte dennoch im Schatten. Er würde sich bei nächster Gelegenheit auch so einen Schirm besorgen müssen.

Sie kämpften sich einen langgezogenen Hügel hoch. Mark ging voraus. In der Hitze hatte keiner von ihnen ein Auge für die Schönheit der Landschaft. Als Mark sich umdrehte, sah er in ein weites Tal, in dem die Hitze flimmerte. Es waren sicher mehr als 40 Grad Celsius.

Nach einigen Minuten kamen sie an eine Stelle, an der zwei Ranger rasteten. Sie hatten Pferde dabei, machten anscheinend gerade eine Pause. Der ältere der beiden sah schlecht aus, sehr schlecht. Die Haut blass wie Kerzenwachs, das Gesicht von Erschöpfung gezeichnet.

Wahrscheinlich ein Hitzschlag, dachte Mark. Nicht ungewöhnlich hier draußen, und auch nicht ungefährlich. Langsam gingen sie auf die beiden Männer zu. Mark hob wie ein Indianerhäuptling die Hand zum Gruß: „Guten Tag, die Herren Ranger. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Können wir helfen?“

Er sah nun, dass auch der jüngere der beiden Männer mitgenommen aussah. Er hatte gerötete Augen, so, als ob er geweint hätte. Beide Männer wirkten irgendwie verwirrt. Was geht hier vor?, dachte Mark.

Es war der jüngere Ranger, der Mark antwortete: „Es hat einen Unfall gegeben. Eine Frau ist in ihrem Zelt verbrannt. Vermutlich hat sie im Zelt gekocht. Eine schreckliche Sache. Sie war gerade einmal 18 Jahre alt.“ Tränen schossen dem Mann in die Augen.

Ryan und Simon hatten umgehend die Zentrale verständigt. Die SMS war erst vor wenigen Minuten raus. Simon schämte sich schrecklich, dass er und Ryan eine Wette auf den Verbleib des Mädchens abgeschlossen hatten.
Der Ranger fuhr fort: „Wir haben soeben die Zentrale verständigt, die schicken einen Hubschrauber. Aber bis der hier ist, das kann dauern. Zuständig ist die Polizei in Bakersfield, vielleicht auch Los Angeles. Schätze, vor vier wird hier keiner ankommen.“

Mark beschloss, den Männern seine Hilfe anzubieten: „Ich schlage vor, wir bauen für Sie und Ihren Kollegen erst mal einen Sonnenschutz auf, okay? Mein Freund hier wird Ihnen bis dahin seinen Sonnenschirm borgen. Anschließend würde ich mir den Unfallort gern ansehen. Ich bin Polizist. Mein Name ist Mark Stetson, ich komme aus Bishop.“

Der ältere der beiden Ranger nickte langsam. „Wir nehmen Ihre Hilfe gern an. Ich bin Ryan, mein Kollege hier heißt Simon.“ Während er sprach, reichte Erick ihm den Sonnenschirm. Er fuhr fort: „Einen Polizisten können wir gut gebrauchen. Aber können Sie sich denn ausweisen? Haben Sie eine Marke dabei?“

Mark zog sein Smartphone aus der Seitentasche am Oberschenkel seiner Hose. „Leider nein, denn ich bin außer Dienst. Aber hier sehen Sie ein Foto von mir in Uniform.“ Er suchte kurz nach dem richtigen Bild, dann übergab er Ryan das Handy. Der warf einen kurzen Blick auf das Foto, dann nickte er. „Gut, wenn Sie sich das antun wollen, gern. Aber ich muss Sie warnen: Es ist wahrlich kein schöner Anblick.“

Sie errichteten schnell einen provisorischen Sonnenschutz, dann ließ sich Mark die Stelle zeigen, an der der Unfall passiert war. Ryan warnte auch ihn wegen der Klapperschlangen, dann ging er los.

Er wusste nicht, warum er sich hier einbrachte. Aber irgendetwas veranlasste ihn, nein, zwang ihn, sich den Unfallort genauer anzusehen.
50 Meter in diese Richtung, hatte Ryan ihm gesagt, und dabei nach Osten gezeigt. Bereits nach 40 Metern nahm auch er den Verwesungsgeruch wahr.
Die letzten Meter ging er langsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe. Dann sah er das schwarze Rechteck, das Ryan ihm beschrieben hatte. Der Körper der Toten wirkte seltsam unförmig. Mark erkannte, dass es nicht nur daran lag, dass die Hitze den Leichnam aufgebläht hatte.

Anscheinend lag die Tote auf dem Bauch, denn der verbrannte Schädel war an der Oberseite glatt. Die Tote lag mit dem Gesicht nach unten. Auf ihrem Rücken erkannte Mark die Reste eines Rucksacks.

Er war nicht völlig verbrannt, und er konnte diverse verkohlte Gegenstände darin erkennen. Er zog sein Handy aus der Tasche, machte einige Fotos. Vorsichtig umrundete er den Leichnam, betrachtete ihn von der anderen Seite. Warum sollte sie sich bäuchlings in das Zelt legen und dabei ihren Rucksack tragen? Ihre Beine und Füße waren nicht so stark verbrannt wie Oberkörper und Kopf. Mark bemerkte die unnatürliche Stellung ihrer Beine. Sie hatte sie weit gespreizt. Ihre Socken trug sie noch an den Füßen, wobei die Gummis der Strümpfe die geschwollenen Unterschenkel tief einschnürten. Dann sah Mark es.

Sein Magen zog sich zusammen, die Haare an seinen Armen richteten sich auf. Neben ihrem Fußgelenk steckte ein Zelthering im Boden. Er hatte gedacht, dass es der Gummi der Socke wäre, der da tief in das Fleisch einschnitt. Aber Mark erkannte einen Kabelbinder. Er ging wieder auf die andere Seite, betrachtete den anderen Fuß. Das gleiche Bild: ein Zelthering, ein Kabelbinder, mit dem der Fuß der Toten an diesem fixiert war.

Ihm wurde schwindelig. Sofort wurde ihm war klar, was dies zu bedeuten hatte: Evelin Shoemaker war nicht das Opfer eines Unfalls. Jemand hatte die Frau gefesselt und ermordet. Die gespreizten Beine ließen Mark zudem eine Vergewaltigung vermuten. Zur Vertuschung eventueller Spuren hatte der Täter ihr den eigenen Rucksack auf den Rücken gelegt, diesen in Brand gesetzt. Mark machte auch hier noch einige Fotos, ebenso von der Umgebung.
Er ging langsam zurück zu den anderen. Sein Verstand arbeitete fieberhaft. Das sah ihm nicht nach einer spontanen Tat aus. Die Kabelbinder, die Zeltheringe, das Feuer: Diese Tat hatte jemand von langer Hand geplant, da war er sich sicher.

Ryan, Simon und Erick blickten ihn gespannt an. Bevor einer der Männer etwas sagen konnte, ergriff Mark das Wort: „Ryan, schreiben Sie bitte sofort eine Nachricht an Ihre Zentrale. Evelin Shoemaker hatte keinen Unfall. Sie wurde brutal ermordet, wahrscheinlich zuvor vergewaltigt. Und irgendetwas sagt mir, dass das nicht der einzige Mord bleiben wird. Wir haben wahrscheinlich einen Serienmörder auf dem Pacific Crest Trail.“

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Als der Bus beschleunigte, vibrierte das Fenster. Sein Kopf fing an zu zittern. Ich muss wohl kurz eingenickt sein, dachte er. Seine Stirn lehnte an der Scheibe, die angenehm kühl war. Im Glas spiegelte sich sein Gesicht, er konnte in seine eigenen ausdruckslosen Augen blicken.

Der Bus fuhr eine Schleife hinab, die Auffahrt zum Highway. Inmitten der Verkehrsinsel, die durch die Schleife entstand, sah er einige heruntergekommene Zelte. Überall lag Müll herum, Papier, Plastiktüten. Dazwischen zerdrückte Pizzakartons, ein Haufen leerer Flaschen und Getränkedosen.

Vor einem der Zelte lag ein lebloser Mensch. Ein Mann, bekleidet mit verdreckten Lumpen. Vielleicht stand er unter Drogen, oder er war betrunken. Aber es war genauso gut denkbar, dass der Mann tot war. Erst wenn er anfing zu stinken, würde einer der anderen Obdachlosen die Polizei verständigen. Zuvor würde er sich jedoch die wenigen noch brauchbaren Besitztümer des Verstorbenen aneignen.

Die Verkehrsinsel war Niemandsland, nicht in Privatbesitz. Überall in den USA hausten Menschen an den Böschungen der Highways, neben Gleisen, auf Autobahnauffahrten. Hier wurden sie geduldet. Fernab der Wohnsiedlungen störte sich niemand an ihnen. Zum Arbeiten, Betteln und Stehlen gingen sie in die Stadt, kehrten zum Schlafen hierher zurück.

Hier strandeten die, für die sich der American Dream nicht erfüllt hatte. Verlor man seine Arbeit, verlor man auch schnell die Wohnung. Man lebte dann zunächst im eigenen Auto, sofern man eines besaß. Musste man irgendwann auch diese Bleibe verkaufen oder wurde sie gepfändet, zog man in den Trailer-Park. Hier konnte man für ein paar Dollar die Woche einen heruntergekommenen Wohnwagen mieten. Schaffte man es nicht, die Miete dafür zusammenzukratzen oder zu erbetteln, dann blieb einem nur noch das Niemandsland.

Er wusste, wie es in diesen Behausungen aussah. Er kannte die Menschen in diesen Zelten. Auch er hatte einige Zeit in so einem Zelt verbracht. Aber das war lange, bevor sein Mentor ihn auf den Trail führte.

Er war jetzt seit mehr als zwei Tagen unterwegs, hatte in dieser Zeit kaum geschlafen. Er mied die großen Bahnhöfe von Amtrak und Greyhound, wo es von Überwachungskameras nur so wimmelte. Er bevorzugte die kleinen, lokalen Busunternehmen. Er konnte hier bar zahlen, niemand verlangte einen Ausweis.

Der Bus fuhr Richtung Norden. In zwei, drei Stunden wäre er am Ende seiner Reise, weit weg vom ersten Einsatz. Sein Ziel war ein kleiner, entlegener Ort, ein unauffälliges Motel. Hier würde er sich verstecken. Bis zum nächsten Einsatz.

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